Jean-Pauls Woche war nicht so gut, der Herbst ist nicht seine beste Zeit und das schlechte Wetter der letzten Wochen hat sein Übriges getan. Er ist immer müde, seine Schlafstörung ist stärker geworden, und so ist er ständig erschöpft. Das macht sein Leben, das er sowieso schon als langweilig und bedeutungslos empfindet, noch schwerer.
„Ich liege stundenlang wach und höre Simones Schnarchen zu. Ich zähle die Nächte, in denen ich vom Hinlegen bis zum Aufstehen schlafen kann. Ich nehme Schlaftabletten, ohne die geht es gar nicht, und trotzdem ist es so schlecht.“
„Woran denken Sie, wenn Sie so da liegen?“
„Was wohl? Meine Gedanken gehen im Kreis, das reinste Kopfkino. Was ich an meinem Leben ändern soll, damit es besser wird. Was ich alles falsch gemacht habe. Was ich tun kann, damit ich weniger Fehler mache in der Arbeit. Was ich mit Simone tun soll, ob ich ihre Kälte verdiene oder ob ich mich von ihr trennen soll. Letztens habe ich mir überlegt, ob ich nicht einmal nach Indien fahren soll, um Meditation zu lernen. Vielleicht geht es mir dann besser?
„Klingt nach schlimmen Nächten. Und sehr, sehr langen.“
„Das können Sie laut sagen. Ich würde am liebsten aufstehen und mich ablenken, aber ich erinnere mich immer wieder daran, dass Sie gesagt haben, der Körper erholt sich auch ohne Schlaf, wenn man nur ruhig im Dunkeln liegt. Daran halte ich mich, und es stimmt: dann bin ich tagsüber halbwegs fit für den Beruf.“
„Was sagt Ihre Psychiaterin dazu, dass es Ihnen schlechter geht?“
„Die kennt das schon von den Vorjahren. Ich habe sie gar nicht angerufen. Was soll sie schon tun? Ich nehme meine Medikamente, die sie mir verschrieben hat. Das nächste Mal soll ich in etwa zwei Wochen zu ihr kommen, dann kann ich ihr das auch noch sagen. Das ist früh genug.“
„Müssen wir uns um Sie Sorgen machen, Jean-Paul? Was ist mit Ihren Suizidgedanken in diesen langen Nächten?“
Er zögert eine Weile. „Nein, ich glaube nicht. Es ist noch nicht so schlimm wie letztes Weihnachten, wo ich dann ins Krankenhaus gekommen bin. Ich habe es noch unter Kontrolle. Ans Sterben denke ich schon immer wieder, aber eher distanziert. Mehr philosophisch. Ich bin zwar diese ewige Mühe leid, aber ich werde mich wohl weiter durchquälen.“
„Was ist Ihr Notfallplan? Haben Sie noch den vom letzten Jahr, und ist der noch aktuell?“
„Ja. Wenn es gefährlich wird, rufe ich die Ärztin an oder gehe in die Ambulanz. Simone weiß auch, dass sie mich hinbringen soll, wenn ich nicht mehr aufstehen kann. Sie fragt mich auch täglich, wann ich in der Früh aufgestanden bin, weil sie das Haus viel früher verlässt als ich. Und wenn ich dann länger im Bett geblieben bin, weil ich in der Nacht nicht geschlafen habe, wird sie ärgerlich und schimpft mit mir. Sicher macht sie sich nur Sorgen, aber ich finde das nervig.“
„Was wäre denn gut?“
„Wenn sie weniger oft fragen würde. Ich kann nicht früher aufstehen, und im Büro ist das kein Thema. Solange ich meine Buchungen mache, ist es egal, um welche Uhrzeit ich das tue. Aber Simone hätte halt gerne, dass wir gemeinsam essen, und das geht sich dann nicht aus. Aber immer wieder schaffe ich es, und dann passt es wieder. Im Moment habe ich nicht die Kraft, mit Simone zu reden, aber das passt schon. Besser als anders: wenn sich niemand um mich kümmern würde, wäre es noch schlechter.“
Schlussbemerkung: Ich mache mir etwas Sorgen um Jean-Paul, aber er verspricht, sich auch bei mir zu melden, wenn es ihm deutlich schlechter gehen sollte. Wir vereinbaren einen Termin in der nächsten Woche, damit der Zeitabstand nicht zu lang wird. Jean-Paul hatte im letzten Jahr eine schlimme Krise, in der er nach einigem Zögern ins Krankenhaus gegangen ist. Dort hat er sich in ca 10 Tagen gut erholen und bessern können. Ich hoffe sehr, dass es dieses Jahr ohne Krise gehen wird.
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